So dominant ist dein Hund

In Bezug auf Hunde hört man ihn immer wieder: den Begriff der Dominanz. Es gibt bis heute Trainingsmethoden, die darauf basieren, dem Hund einen niedrigeren Rang als dem Menschen zuzuweisen und dies notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen.

Doch was steckt hinter dem Konzept der Dominanz? Was bedeutet es, dominant zu sein? Wie wird Dominanz in der Forschung betrachtet, und welche Probleme gibt es bei der Definition und Untersuchung von Dominanzstrukturen oder -hierarchien?

Wer online nach Antworten sucht, ob der eigene Hund dominant sein könnte, findet eine Vielzahl von Beiträgen mit unterschiedlichen Meinungen. Einige Expert*innen gehen von einer klar beobachtbaren Dominanzhierarchie bei Hunden aus. Diese Hierarchie soll sich nicht nur in einzelnen Verhaltensweisen zeigen, sondern eine Strategie widerspiegeln, die klare Machtbeziehungen sowohl unter Hunden als auch in der Beziehung zum Menschen abbildet. Andere nutzen den Dominanzbegriff, um Verhalten zu beschreiben, das in sozialen Situationen um Ressourcen gezeigt wird. Wieder andere lehnen den Begriff ab und plädieren dafür, ihn im Hundetraining nicht mehr zu verwenden, da er mehr Schaden als Nutzen bringt.

Was dieser Artikel (nicht) bieten kann

In diesem Artikel werden verschiedene Positionen und Diskussionen zusammengetragen, die maßgeblich zum heutigen Verständnis von Dominanz bei Hunden beitragen. Aufgrund des Umfangs können jedoch nicht alle Positionen und Erkenntnisse abgedeckt werden. Ziel ist es, einen Einblick zu geben und eine fundierte Darstellung zu bieten.

Beim Zusammenfassen der Inhalte kann es vorkommen, dass Positionen und Ergebnisse nicht vollständig gerecht dargestellt werden. Dennoch bietet dieser Artikel einen umfassenden Zugang und verweist auf Quellen für eine eigenständige, detailierte Auseinandersetzung. Wähle die Positionen aus, die dich interessieren. Es handelt sich um eine nicht zu enden scheinende Diskussion mit vielen Beteiligten und unterschiedlichen Ansichten.

Wie einige der aufgezählten Positionen einen Bias, also eine Voreingenommenheit, aufweisen, so ist auch dieser Artikel von der kritischen Betrachtung des Dominanzbegriffs geprägt. Der Schaden durch die populär verankerte Vorstellung von Dominanz ist nicht von der Hand zu weisen. Dabei wird die in der Ethologie bestehende Definition keinesfalls negiert, sondern im Kontext betrachtet, um die Ursprünge und Auslegungen des Begriffs zu verstehen.

Der Ursprung und aktuelle Stand des Dominanzbegriffs im Hundetraining

Um zu verstehen, warum der Dominanzbegriff im Hundetraining noch immer eine große Rolle spielt, lohnt sich ein Blick auf seine Vergangenheit. Woher kommt der Begriff? Wie hat er sich entwickelt? Wer hat sich unter welchen Bedingungen mit diesem Begriff wissenschaftlich beschäftigt?

Die Hackordnung der norwegischen Hühner

Alles beginnt 1921 mit Thorleif Schjelderup-Ebbes Aufzeichnungen zur “Hackordnung” bei Hühnern. In seiner Dissertation beschreibt Schjelderup-Ebbe das Verhalten von Hühnern, sich während der Fütterung gegenseitig zu hacken. Dabei erkennt er ein System: Manche Hühner dürfen alle hacken, werden aber selbst kaum angegriffen, während andere von allen gehackt werden und selbst kaum andere attackieren. Auf Basis dieses Verhaltens kann er eine soziale Rangfolge der Hühner festlegen – die sogenannte Hackordnung. Diese Beobachtungen bilden den Ausgangspunkt aller späteren Untersuchungen zum Thema Dominanz (Strauss et al., 2022).

Der Alpha-Wolf im Zoo von Basel

Einige Jahre nach Schjelderup-Ebbes Arbeiten beginnt Rudolf Schenkel mit seinen Beobachtungen von Wölfen im Baseler Zoo. Bei den nicht-verwandten Tieren in Gefangenschaft stellt er eine soziale Hierarchie fest und prägt damit die Idee des “Alpha-Wolfs” (Schenkel, 1947). Im Jahr 1947 veröffentlicht er seine Aufzeichnungen, die eine anhaltende Debatte auslösen (Ha & Campion, 2019).

Kritiker*innen beschreiben diese Studien als fehleranfällig, da die künstlich geschaffenen Bedingungen und erschwerten Lebensumstände zu mehr agonistischem Verhalten führen. Vor allem auf diese Verhaltensweisen stützt sich Schenkels Idee der Dominanzhierarchie, was die Kritik verstärkt (Ha & Campion, 2019).

Info: Agonistisches Verhalten

Agonistisches Verhalten umfasst jede soziale Interaktion oder Auseinandersetzung, die bedrohliches Verhalten, Aggression, Kampf oder Unterwerfung beinhaltet [übersetzt nach Young, 2019].

Zimens Beobachtungen zu Wölfen

Zimen baut auf Schenkels Arbeiten auf und spricht von einer sozialen Rangordnung, die nicht unbedingt von Ressourcen abhängt, sondern von einem klaren Statusunterschied zwischen den Individuen innerhalb einer Gruppe. Dieser Status legt den jeweiligen Freiheitsgrad des Verhaltens im Umgang mit dem Sozialpartner fest.

Er betont, dass die soziale Rangordnung, die sich aus den vielen verschiedenen Beziehungen innerhalb einer Gruppe ergibt, mehr ist als nur die Summe aller Zweierbeziehungen. Es handelt sich um ein komplexes System interdependenter sozialer Beziehungen. Die daraus resultierende soziale Rangordnung ist ein vereinfachtes Modell der Wirklichkeit, das die Komplexität dieser Beziehungen zu ordnen versucht (Zimen, 1988).

Zimen erkennt demnach die Komplexität sozialer Beziehungen an, ist jedoch stark auf eine eindeutige Hierarchisierung innerhalb von Gruppen fokussiert. Er geht davon aus, dass einige Individuen stets um eine Alpha-Position bemüht sind. Dem Menschen schreibt er in diesem Gefüge meist den Status eines Super-Alphas zu, der über allem steht. Dennoch können die Ranghöchsten eines Rudels den Status des Menschen anfechten und ihn angreifen – auch Hunde sind davon nicht ausgenommen. Dieses Streben existiert laut Zimen unabhängig davon, ob ein Individuum in Gefangenschaft oder in der Wildnis lebt (Zimen, 1988).

Auch Erik Zimens Untersuchungen stehen aufgrund der künstlichen Bedingungen, unter denen sie durchgeführt wurden, in der Kritik. Sie tragen maßgeblich zur Entwicklung der Vorstellung von Dominanzstrukturen bei Hunden bei. Vor allem in Deutschland gilt Ziemen bis heute einer der wichtigsten Ethologen der Nachkriegszeit.

Machthierarchie oder Familie? David Mechs Perspektive

David Mech knüpft 1970 an frühere Forschungen an und beobachtet das Verhalten von Wölfen auf einer kleinen Insel mit begrenztem Zugang zu Nahrung. Auf dieser Insel sind Elche die einzige Beute, was große Gruppen und erheblichen Aufwand zur Nahrungsbeschaffung erfordert. Dies führt zu vermehrten Kämpfen unter den Wölfen (Ha & Campion, 2019).

Nachdem Mech von dieser besonderen Situation erfährt, zieht er seine Zustimmung zur Theorie der strikten Dominanzhierarchie mit klaren Alpha-Tieren zurück und aktualisierte seine Erkenntnisse. Er hält die Vorstellung eines klar auszumachenden Alpha-Wolfs, basierend auf Beobachtungen an nicht verwandten Individuen in Gefangenschaft, für irreführend (Mech, 1999). Man könnte diese Situation mit einer zusammengewürfelten Familie in einer Reality-TV-Sendung vergleichen – interessant, aber nicht repräsentativ für allgemeingültige Aussagen über die Spezies Mensch (Ha & Campion, 2019).

Mech stellt fest:

„[… D]ie viel gepriesene Dominanzhierarchie der Wölfe ist in erster Linie ein natürliches Spiegelbild der Alters-, Geschlechts-, und Fortpflanzungskultur der Gruppe […]. Das typische Wolfsrudel sollte also als Familie betrachtet werden, in der die erwachsenen Eltern die Aktivitäten der Gruppe leiten und sich die Gruppenführung in einem System der Arbeitsteilung teilen […]. Dominanzdemonstrationen sind ungewöhnlich, es sei denn, es geht um den Wettbewerb um Nahrung. Dann erlauben sie es den Eltern, die Nahrung zu monopolisieren und sie an ihre jüngsten Nachkommen zu verteilen“ (übersetzt nach Mech, 1999).

Mechs Erkenntnisse räumen – zumindest innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses – endgültig mit der Alpha-Theorie auf. Seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen tragen wesentlich zu einem besseren Verständnis der sozialen Strukturen bei Wölfen bei und beeinflussen dadurch auch die moderne Sichtweise auf das Verhalten von Hunden.

Dominanz bei domestizierten Hunden – sinnvolles Konzept oder schlechte Gewohnheit? Ein Austausch zwischen Bradshaw et al. und Schilder et al.

Im Jahr 2009 sorgen Bradshaw et al. mit einem Artikel für Aufruhr, indem sie das gegenwärtige Verständnis des Dominanzkonzepts und dessen Auswirkungen auf das Hundetraining hinterfragen. Sie kritisieren, dass Dominanz Hunden oft als Charaktereigenschaft zugeschrieben wird und dass Beobachtungen von Wölfen und freilebenden Hunden auf domestizierte Hunde übertragen werden. In einem Austausch mit Schilder et al. diskutieren die Autor*innen zwischen 2009 und 2016 unterschiedliche Kernthemen, die hier stichpunktartig zusammengefasst werden sollen (Bradshaw et al., 2009; Bradshaw et al., 2016; Schilder et al., 2014).

Die Hauptdiskussionspunkte

Dominanz darf (nicht) als Eigenschaft eines Individuums gesehen werden

  • Bradshaw et al. argumentieren, dass Dominanz in der Ethologie als Beziehung zwischen zwei Individuen verstanden wird, die sich in einer Gruppe zu Hierarchien formen kann. Diese Hierarchien variieren je nach Gruppenzusammensetzung. Zudem gibt es innerhalb der Forschung unterschiedliche Interpretationen von Dominanz, abhängig vom Kontext wie Ressourcenzugriff, aggressiven Begegnungen oder Hierarchien – dies macht eine eindeutige Bezugnahme auf Forschungsergebnisse zu Dominanz nahezu unmöglich. Auch zeitliche und kontextuelle Variablen spielen eine Rolle. Sie betonen, dass es semantisch und biologisch nicht korrekt ist, von Dominanz als Persönlichkeitsmerkmal zu sprechen.
  • Schilder et al. hingegen gehen von verhaltenstechnischen Tendenzen bei Hunden aus und argumentieren, dass man deshalb auch von dominanten und submissiven Persönlichkeiten sprechen kann.

Das Wolfsrudel bietet (k)ein Erklärungsmodell für Hundeverhalten

  • Bradshaw et al. kritisieren die Bedingungen, unter denen die Beobachtungen von Schenkel und Zimen an Wölfen entstanden sind. Diese Studien fokussieren sich hauptsächlich auf Aggressionen als Definition von Dominanz. Spätere Beobachtungen von Wölfen in freier Wildbahn zeigen jedoch eher Verhaltensweisen, die auf sozialem Zusammenhalt basieren, anstatt auf Aggressionen. Ein übermäßiger Fokus auf aggressive Verhaltensweisen ist daher fragwürdig. Am Ende stellt sich die Frage: Welche dieser Perspektiven lässt sich überhaupt auf domestizierte Hunde übertragen und, wenn ja, wie weit?
  • Schilder et al. verweisen darauf, dass sich die Verhaltensweisen von Wölfen in Gefangenschaft und in Freiheit zwar in ihrer Häufigkeit und Intensität unterscheiden, aber die Prinzipien der Kommunikation dieselben sind. Nur weil Hunde nicht in klaren Rudelstrukturen leben, bedeutet das nicht, dass es keine Dominanzstrukturen gibt.

Beobachtungen an freilebenden Hunden sind (nicht) auf Begleit- und Familienhunde zu übertragen

  • Schilder et al. führen zur Unterstützung ihrer These, dass auch Hunde klare Dominanzstrukturen bilden, die Studien von Cafazzo et al. (2010), Trisko (2011) und Borg et al. (2012) an. Diese Studien bestätigen die formale Dominanz unter Hunden eindeutig.
  • Bradshaw et al. schreiben in ihrer Antwort, dass die in Rom durchgeführten Beobachtungen von Cafazzo et al. statistische Verbindungen zwischen Dominanzbeziehungen aufzeigen, jedoch keinen eindeutigen Beweis liefern, dass das Verhalten von Wölfen und Hunden vollständig vergleichbar ist. Sie argumentieren, dass Verhaltensweisen zwar adaptiv übernommen worden sein könnten und Hunde ähnliche Muster zeigen wie Wölfe. Allerdings hat sich der soziale Kontext durch die Domestikation stark verändert, insbesondere in Bezug auf Nahrungsbeschaffung sowie Fortpflanzungs- und Aufzuchtstrukturen. Dies impliziert, dass die Bedeutung und Funktion von Verhaltensweisen sich durch das Umfeld, in dem domestizierte Hunde leben, verändert haben. Hunde, die in menschlicher Obhut leben, müssen nicht auf dieselbe Weise konkurrieren wie wildlebende Hunde. Es gibt nur wenige Studien zu Hunden in menschlicher Obhut. Auch finden Trisko (2011) heraus, dass Hunde innerhalb betreuter Gruppen verschiedene Kombinationen von Zuneigung, Spiel und Konfliktverhalten zeigen, um ihre sozialen Beziehungen zu gestalten. Dominanz ist dabei nicht das einzige Organisationsprinzip. Soziale Gruppierungen entstehen meist durch mehrere dyadische Beziehungen (Zweierbeziehungen) zwischen einzelnen Hunden. Diese Beziehungen werden durch eine Kombination aus individuellen Persönlichkeitsmerkmalen, Lernerfahrungen und kumulativem Lernen aus früheren Erfahrungen geprägt. Ein Hund kann bspw. als „dominant“ erscheinen, wenn er eine hohe Motivation, geringen Neurotizismus, geringe Freundlichkeit und viele erfolgreiche Erfahrungen im Erlangen von Ressourcen gemacht hat.
Info: Formale Dominanz

Unter formaler Dominanz wird Verhalten verstanden, das in nur eine Richtung gezeigt wird, unabhängig vom Kontext. Zum Beispiel wird bei Wölfen eine hohe Haltung nur von dominanten Tieren eingenommen, während untergeordnete Tiere eine niedrige Haltung zeigen.

Begriffliche Klarheit schaffen

Die Diskussionen über Dominanz halten bis heute an. Die aufgeführten Positionen zeigen, dass nicht immer eindeutig ist, was unter Dominanz verstanden wird. Deshalb soll im Folgenden eine definitorische Annäherung an den Dominanzbegriff vorgenommen werden, um Klarheit zu schaffen und ein besseres Verständnis zu ermöglichen.

Eine Definition legt fest, was ein bestimmter Begriff bedeutet und grenzt ihn von anderen ab. Dies umfasst charakteristische Eigenschaften (z.B. ein Hund ist ein Säugetier) und die Grenzen des Bedeutungsumfangs (z.B. ein Hund ist keine Katze, obwohl beide Säugetiere sind). Um Klarheit und Eindeutigkeit zu gewährleisten, müssen zusätzliche Eigenschaften identifiziert werden (z.B. was unterscheidet Hunde von anderen Säugetieren).

Eine brauchbare Definition zeichnet sich durch Präzision, Verständlichkeit und Allgemeingültigkeit aus. In der Praxis gibt es jedoch oft Abweichungen, sogar innerhalb eines wissenschaftlichen Feldes. Im Alltag gibt es häufig einen Konsens über grundlegende Definitionen, doch bei genauer Betrachtung treten oft Schwierigkeiten bei der Abgrenzung auf. Eine Definition dient als Basis, um anderen klarzumachen, worüber man spricht, und um die eigene Position innerhalb eines Diskurses zu verorten.

Was bedeutet Dominanz

Im alltäglichen Sprachgebrauch verstehen wir Dominanz als die Macht und den Einfluss über andere. Sie steht für Überlegenheit, Vorrang, Vorherrschaft, Meisterschaft, Autorität, Herrschaft, Befehl und Kontrolle und kann nicht einfach in die Verhaltenswissenschaft übertragen werden (Abrantes, 2011).

In der Ethologie wird Dominanz verstanden als Attribut eines Musters von sich wiederholenden, agonistischen Interaktionen zwischen zwei Individuen, welches durch ein konsistentes Ergebnis zugunsten des immer selben Mitglieds der Dyade geprägt ist und eine standardmäßige nachgiebige Reaktion seines Gegners anstelle einer Eskalation gekennzeichnet ist. Der Status des beständigen Gewinners ist dominant und der des Verlierers untergeordnet (Drews, 1993 zitiert nach Bradshaw et al., 2009). Oder einfach ausgedrückt – Dominanz bedeutet, dass bei wiederholten Auseinandersetzungen zwischen zwei Tieren immer dasselbe Tier gewinnt, während das andere nachgibt.

Definition von dominantem Verhalten nach Abrantes

Abrantes (2012) hebt die definitorischen Unstimmigkeiten hervor, die auch in vielen wissenschaftlichen Artikeln zu finden sind, und führt exemplarisch die auf Wikipedia zu findende Definition an. Dort wird Dominanz als bevorzugter Zugang eines Individuums zu Ressourcen gegenüber einem anderen beschrieben. Dominanz soll somit als Zustand eines hohen oder niedrigen Status gesehen werden, der es dem dominanten Individuum ermögliche, Zugang zu Ressourcen ohne das Anwenden von Aggression zu erhalten. Konträr dazu steht die Submission oder Unterwerfung. Daraus entsteht letztendlich eine Dominanzhierarchie, innerhalb derer Individuen mit höherem Status die niedrigeren vom Zugang zu Ressourcen verdrängen. Diese Hierarchien müssen nicht fest sein und können von unterschiedlichen Faktoren abhängen.

Die Ethologie ist jedoch eine auf beobachtbaren Fakten basierende Wissenschaft. Pauschal von einer Hierarchie auszugehen, würde implizieren, abstrakte Qualitäten in Verhalten hineinzuinterpretieren und sich von beobachtbarem Verhalten abzulösen. Dominanz kann auch nicht mit Hierarchie gleichgesetzt werden, da es Hierarchien gibt, die auf anderen Qualitäten basieren als dominantem Verhalten. Dadurch schafft der Begriff einer Dominanzhierarchie einen falschen Eindruck und muss von dominantem Verhalten unterschieden werden (Abrantes, 2012).

Roger Abrantes (2012) legt folgende Definition für dominantes Verhalten zugrunde:

  • Dominantes Verhalten ist quantitativ und quantifizierbares Verhalten, welches von einem Individuum gezeigt wird, um vorübergehend Zugang zu einer bestimmten Ressource zu erlangen, ohne dass dabei eine der Parteien verletzt wird.
  • Dominantes Verhalten ist situationsabhängig, individuell und ressourcenbezogen. Ein Individuum, das in einer bestimmten Situation dominantes Verhalten zeigt, zeigt dieses nicht unbedingt in einer anderen Situation gegenüber einem anderen Individuum oder demselben Individuum in einer anderen Situation.
  • Persitentes dominantes oder unterwürfiges Verhalten von denselben Individuen gegenüber denselben anderen Individuen kann zu einer vorübergehenden Hierarchie führen oder auch nicht, je nach Art, sozialer Organisation und Umweltbedingungen.
  • Einige Individuen haben Tendenzen, eher dominantes Verhalten zu zeigen, andere, unterwürfiges Verhalten zu zeigen. Diese Tendenzen haben multifaktorielle Ursprünge. Sie sind nicht zu bewerten und können situativ mehr oder weniger Vorteile mit sich bringen. Individuen werden auf Strategien zurückgreifen, mit denen sie sich am wohlsten fühlen; das kann je nach den tendenziellen Verhaltensstrategien innerhalb einer Gruppe unterschiedlich aussehen.
  • Dominantes Verhalten ist adaptiv und hoch dynamisch, da es stets von verschiedenen Variablen abhängt.
  • Dominantes Verhalten unterscheidet sich von aggressivem Verhalten in seiner Funktion. Aggressivität bezieht sich auf Fremde und soziale Aggressivität oder dominantes Verhalten auf Sozialpartner*innen, die eng zusammenleben und voneinander abhängig sind. Damit dient die soziale Aggression dem Eliminieren von Konflikten mit einem Sozialpartner, während Aggressivität dazu dient, Konflikte mit Fremden anzugehen.

Abrantes fokussiert sich somit auf den situativen Charakter der Dominanz, indem er dominantes Verhalten näher definiert. Gleichzeitig erkennt er an, dass sich durch das Hinzuziehen der zeitlichen Dimension bestimmte Muster herausstellen können, aber nicht müssen.

Dominanzhierarchie

Eine soziale Hierarchie, also eine soziale Rangfolge, ist ein Phänomen, das von Menschen bei anderen (nicht-)menschlichen Tieren beobachtet wurde (Bradshaw et al., 2017). Dies bedeutet jedoch nicht, dass Hierarchien bewusst entstehen und die beobachteten Tiere sich darüber im Klaren sind, dass sie in Hierarchien leben. Wie Bradshaw eindrücklich verdeutlicht: Hierarchien können sogar bei Robotern beobachtet werden, die basierend auf einfachen Reiz-Reaktions-Regeln handeln und über eine Erinnerung an vorherige Begegnungen verfügen. Dementsprechend entstehen sie aus einfacher Konditionierung und Erinnerungsleistung und nicht aus einer eigenen kognitiven Repräsentation eines Hierarchieverständnisses, das die Individuen selbst besitzen müssen.

Auch bei Hunden ist nicht anzunehmen, dass sie ein Verständnis von “Status” besitzen. Vielmehr reagieren sie auf Basis ihrer bisherigen Lernerfahrungen mit anderen Individuen (Bradshaw et al., 2017). Verhalten kann durchaus im Kontext einer Hierarchie gesehen werden – wer interagiert wie oft in welchem Kontext mit wem. Dass diese Hierarchisierung zu beobachten ist, ist jedoch zunächst eine neutrale Beobachtung ohne Handlungsimplikation und Antwort auf die Gründe hinter dieser Messung. Es ist nicht davon auszugehen, dass Hunde über ein inneres Streben danach verfügen, in Hierarchien zu leben. Eine solche Annahme entzieht sich jeglicher Logik, die innerhalb der durch die Ethologie festgelegten Definition herzustellen wäre und ist weit entfernt von der wissenschaftlichen Praxis der Beobachtung.

Fernab von Hunden

Dominanz ist ein Konzept, das nicht nur in Bezug auf Hunde diskutiert wird. Um ein differenziertes Verständnis von Dominanz bei Hunden zu entwickeln, lohnt es sich, den Blick zu weiten. Anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Hackordnung veröffentlichten Strauss et al. (2022) einen Artikel, der die Forschung zur Dominanzhierarchie reflektiert und Ausblicke für zukünftige Untersuchungen gibt. Sie halten fest:

  • Dominanzhierarchien sind in nahezu allen Spezies zu beobachten.
  • Dominanzhierarchien sind Netzweke von Dominanzbeziehungen, die von Bedrohung und Unterordnung gekennzeichnet sind. Viele frühe Studien zur Dominanzhierarchie orientieren sich an freilebenden und eingesperrten Tieren und blicken dabei auf Gruppen, die begrenzt Zugang zu Nahrung und Fortpflanzungserfolg haben. Die daraus hervorgehenden Verhaltensweisen wurden häufig fälschlicherweise als Dominanzmarker interpretiert. Ein modernes Verständnis von Dominanzhierarchien erkennt sie als dyadische soziale Beziehungen, die durch eine Abfolge von agonistischen Interaktionen gekennzeichnet sind, bei denen ein Individuum Unterordnung zeigt.
  • Dominanzhierarchien können auf mehreren Ebenen variieren, aber sind transitiver als erwartet.
  • Die Position innerhalb einer Dominanzhierarchie wird durch eine Kombination von Attributen eines Individuums, stochastische Prozesse und den sozialen Kontext bestimmt.
  • Die Position in der Dominanzhierarchie wird häufig – aber nicht immer – mit fitnessbezognenen Ergebnissen in Verbindung gebracht.

Die Autor*innen halten fest, dass der Schlüssel, um hierarchische Strukturen zu verstehen, darin liegt, die Individuen zu betrachten, statt die Tiere als Vertreter*innen eines Prototypen zu verstehen. Dominanzhierarchien sind demnach das Ergebnis mehrerer Zweierbeziehungen innerhalb einer Gruppe, die anhand bestimmter Verhaltensweisen kategorisiert werden. Diese sind wiederum von unterschiedlichen Faktoren abhängig und somit nur als beobachtbare Kategorie zu verstehen, die anhand sehr spezifischer Merkmale festzumachen ist. Der aktuelle Wissensstand auch außerhalb der Forschung um und mit Hunden gibt somit ebenfalls wieder, dass Dominanzhierarchien komplexe Netzwerke individueller Beziehungen sind und nicht Ergebnis eines Strebens nach Status.

Wissenschaftliche Grundlagen

Dominanz wird häufig als Rechtfertigung für einen groben Umgang mit Hunden herangezogen. Wissenschaftliche Studien werden zitiert, um vermeintlich zu beweisen, dass auch domestizierte Hunde Dominanzverhalten zeigen. Daraus werden dann Empfehlungen für den Umgang mit ihnen abgeleitet. Es ist jedoch wichtig, diese Studien im Kontext zu betrachten und die Details genauer zu analysieren.

Exemplarisch werden nun zwei im Kontext mit Dominanz häufig genannte Studien hinsichtlich ihrer definitorischen Grundlage, ihres Forschungsziels und ihrer Ergebnisse zusammengefasst und eingeordnet, sowie eine aktuelle Veröffentlichung.

Cafazzo et al. (2010)

  • Definition: Dominanz wird als ein soziales Verhältnis definiert, das auf der Hierarchie von agonistischen (aggressiven und dominanten) Interaktionen basiert. Es wird zwischen agonistischer Dominanz, formaler Dominanz und kompetitiver Fähigkeit unterschieden. Agonistische Dominanz zeigt sich in den Ergebnissen von Auseinandersetzungen, während formale Dominanz durch ritualisierte Signale und Begrüßungsrituale charakterisiert ist. Kompetitive Fähigkeit bezieht sich auf die Fähigkeit eines Individuums, Zugang zu begrenzten Ressourcen zu erhalten.
  • Ausgangslage: Die Studie wurde in einem Vorstadtgebiet von Rom, Italien, durchgeführt. Die Forschenden beobachteten eine Gruppe von freilaufenden Hunden, bestehend aus insgesamt 27 Individuen, die sich im Laufe der Studie auf 25 reduzierte. Die Hunde wurden anhand ihrer Fellfarbe, Muster, Haarlänge, Körpergröße und Geschlecht individuell identifiziert.
  • Forschungsziel: Das Ziel der Forschung war es, die Existenz einer sozialen Dominanzhierarchie in einer freilaufenden Hundegruppe zu untersuchen. Es sollte festgestellt werden, ob eine lineare Dominanzhierarchie existiert, wie diese in unterschiedlichen Kontexten (z.B. in der Anwesenheit von Futter oder läufigen Weibchen) variiert und ob submissives Verhalten ein Zeichen formaler Dominanz bei Haushunden ist.
  • Ergebnisse: Die Studie zeigt, dass freilaufende Hunde eine signifikante lineare Dominanzhierarchie aufweisen. Submissives Verhalten scheint der beste Indikator für Dominanzbeziehungen zu sein, da es eine hohe Konsistenz in der Richtung zeigt. Die Dominanzhierarchie bleibt in verschiedenen Wettbewerbskontexten (Futter, läufige Weibchen) stabil. Agonistische Dominanz wird hauptsächlich durch submissives Verhalten und nicht durch aggressive Interaktionen aufrechterhalten. Die Autor*innen stellen fest, dass formale Dominanz durch submissive-affirmative Verhaltensweisen charakterisiert ist, die unidirektional und kontextübergreifend auftreten.
  • Einordnung: Es bestehen einige Einschränkungen. Erstens ist die Generalisierbarkeit der Ergebnisse durch die spezifische städtische Umgebung in Rom begrenzt. Zweitens ist die Stichprobengröße mit 27 Hunden relativ klein, was zu Verzerrungen führen könnte. Drittens könnten menschliche Einflüsse, wie die regelmäßige Fütterung durch Freiwillige, das natürliche Verhalten der Hunde beeinflussen, da Futterstellen mehr Konkurrenz schaffen. Schließlich fehlen genetische Analysen, um die angenommene Verwandtschaft innerhalb der Hundegruppe zu bestätigen und deren Einfluss auf die Dominanzhierarchie zu bewerten.

Trisko et al. (2016)

  • Definition: Dominanz wird als ein soziales Verhältnis definiert, bei dem ein Individuum (der Dominante) regelmäßig und erwartungsgemäß durch unterwürfige Verhaltensweisen von einem anderen Individuum (dem Submissiven) anerkannt wird. Dies zeigt sich häufig in einseitigem Verhalten wie dem Lecken des Fanges und anderen Zeichen der Unterwerfung.
  • Ausgangslage: Vierundzwanzig kastrierte Hunde in einer Hundetagesstätte wurden über ein Jahr hinweg beobachtet. Die Hunde variierten in Geschlecht, Alter und Rasse und bildeten verschiedene dyadische Beziehungen untereinander.
  • Forschungsziel: Das Ziel der Forschung war es, die Komplexität und Differenziertheit der sozialen Beziehungen zwischen Hunden zu erfassen. Es wurde insbesondere untersucht, wie Affiliation und Dominanz in diesen Beziehungen zusammenwirken, welche dyadischen Charakteristika die Art der Beziehung beeinflussen und ob Hunde enge soziale Bindungen oder Freundschaften bilden.
  • Ergebnisse: Hündische Beziehungen sind hochkomplex und darauf ausgelegt, Konflikte zu vermeiden. Es gibt fünf Beziehungstypen: formale Dominanz, egalitär, agonistisch, nicht-interagierend und ungeklärt. Jeder Hund kann in unterschiedlichen Beziehungen zu seinen Artgenossen beobachtet werden, wobei jede dyadische Beziehung von eigenen Charakteristika geprägt ist. Formale Dominanz ist eine Art der Beziehung, doch nicht alle basieren darauf. Formal geprägte Beziehungen entwickeln sich oft zu egalitären Beziehungen (also ohne Machtungleichgewicht). Viele Hunde interagieren gar nicht miteinander; einige interessieren sich kaum füreinander, während andere starke soziale Bündnisse schließen.
  • Einordnung: Es bestehen einige Einschränkungen. Erstens basiert die Untersuchung auf Beobachtungen in einer Hundetagesstätte, was die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf andere Umgebungen einschränken könnte. Zweitens umfasst die Stichprobe nur 24 kastrierte Hunde, was die Vielfalt der sozialen Interaktionen und Beziehungen einschränken könnte. Drittens könnten die kontrollierten Bedingungen in der Tagesstätte das natürliche Verhalten der Hunde beeinflussen. Schließlich fehlen Langzeitbeobachtungen und genetische Analysen, um die Stabilität und genetischen Einflüsse auf die beobachteten sozialen Strukturen vollständig zu verstehen.

Vékony & Pongrácz (2024)

  • Definition: In dieser Studie wird Dominanz als Maß für den Rang eines Hundes innerhalb eines Mehrhundehaushalts verstanden. Dieser Rang basiert auf konsistenten Ergebnissen von Wettbewerbssituationen und spezifischen Verhaltensweisen, die in sowohl wettbewerbsorientierten als auch nicht-wettbewerbsorientierten Szenarien beobachtet wurden.
  • Forschungsziel: Die Forschung hatte das Ziel, eine fragebogenbasierte Methode, den Dog Rank Assessment Questionnaire (DRA-Q), zur Bewertung von Dominanzhierarchien bei zusammenlebenden Begleithunden zu validieren. Hierzu wurden die Ergebnisse des Fragebogens mit dem Verhalten der Hunde in einem kontrollierten Wettbewerbstest (Toy Possession Test) und einem nicht-wettbewerbsorientierten Citizen-Science-Szenario (Greeting Test) verglichen.
  • Ergebnisse: Die Studie zeigt, dass die Rangbewertungen der Hunde aus dem Fragebogen mit ihrem Verhalten in beiden Szenarien übereinstimmt. Hunde mit höheren Rangwerten, die durch den Fragebogen identifiziert werden, erhalten und behalten häufiger Spielzeuge während des Toy Possession Tests. Zudem zeigen sie mehr dominante und weniger submissive Verhaltensweisen im Greeting Test. Damit validiert die Studie den Fragebogen als zuverlässiges Instrument zur Bewertung von Dominanzhierarchien unter Begleithunden.
  • Einordnung: Es bestehen einige Einschränkungen der Studie. Erstens können Halter*innen-Daten zu Verzerrungen führen, da Halter*innen möglicherweise das Verhalten ihrer Hunde nicht genau wahrnehmen oder berichten. Zweitens könnten die Tests, obwohl sie natürliche Szenarien widerspiegeln sollen, nicht die gesamte Komplexität der sozialen Interaktionen von Hunden erfassen. Drittens ist die Stichprobe nicht repräsentativ für alle Mehrhundehaushalte, was die Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse einschränkt. Viertens spiegeln die kurzfristigen Tests möglicherweise nicht die langfristige soziale Dynamik innerhalb des Haushalts wider. Schließlich berücksichtigt die Studie nicht den potenziellen Einfluss externer Faktoren wie Änderungen in der Haushaltszusammensetzung oder Umgebung auf die sozialen Hierarchien der Hunde.

Die Forschung zeigt: Die Realität ist komplex

Die Untersuchungen von Cafazzo et al. (2010), Trisko et al. (2016) und Vékony & Pongrácz (2024) bieten wertvolle Einblicke in die sozialen Strukturen und Dominanzbeziehungen von Hunden. Sie zeigen, dass Hunde in unterschiedlichen Kontexten vielfältige und komplexe soziale Beziehungen entwickeln können, die nicht immer auf Dominanz basieren müssen, aber können. Diese Studien verdeutlichen, dass Dominanzbeziehungen situativ und individuell unterschiedlich ausgeprägt sein können.

Insgesamt unterstreichen die Studien, dass Dominanz ein facettenreiches und kontextabhängiges Phänomen ist, das in der Forschung differenziert betrachtet werden muss. Die Ergebnisse liefern interessante Anhaltspunkte, aber sie bieten keine umfassenden oder allgemeingültigen Implikationen für das Hundetraining. Stattdessen dokumentieren sie die sozialen Beziehungen, in denen sich die beobachteten Hunde befinden. Für eine fundierte Anwendung der Erkenntnisse im praktischen Umgang mit Hunden sind weitere, umfangreichere und diversere Forschungen erforderlich.

Dein Hund strebt nicht nach Dominanz

Das eigentliche Problem in der Diskussion um Dominanz hat seinen Ursprung in den frühen Forschungen, insbesondere den Arbeiten von Schenkel und Zimen. Diese Forscher erkannten zwar die Komplexität von sozialen Beziehungen an, unterstellten aber Wölfen und später auch Hunden ein Streben nach Macht und das Durchsetzen einer Alpha-Position durch Dominanz.

Der Kern der Debatte in Bezug auf das Training und Zusammenleben mit Hunden liegt weniger darin, ob es, wie in der Ethologie definiert, dominantes Verhalten gibt oder ob auf Basis dieser Verhaltensweisen Hierarchien ausgemacht werden können – dominantes Verhalten macht ohnehin nur einen Bruchteil des Sozialverhaltens von Hunden aus. Vielmehr geht es darum, wie wir mit unseren Hunden umgehen sollten. In dieser Hinsicht kann uns das Konzept der Dominanz keine Antworten liefern, außer dass wir dank der Forschung erkennen dürfen, wie komplex Verhalten ist und immer tiefere Erkenntnisse über die unterschiedlichen Gründe für Verhalten gewinnen können.

Die soziale Dominanz

Annahmen wie die von Schenkel und Zimen sind nicht auf Hunde begrenzt. Die Theorie der sozialen Dominanz, die annimmt, dass Dominanz als “innerer Antrieb” existiert und soziale Beziehungen beeinflusst, gilt übrigens auch außerhalb des Hundetrainings als überholt. Es ist wichtig, sich mit den Vorstellungen auseinanderzusetzen, die unser Denken prägen, um eine kritische Reflexion anzuregen. Von einem Streben nach Hierarchien und fest zuweisbaren Plätzen innerhalb einer Gesellschaft auszugehen, ist problematisch (Turner & Reynolds, 2003).

Eine Theorie, die von sozialer Dominanz als Eigenschaft und natürliches Phänomen ausgeht, nimmt gleichzeitig an, dass Systeme, die auf Zwang, Dominanz und Konflikt basieren richtig sind und rechtfertigt autoritäre Systeme durch die Annahme von natürlicher Überlegenheit und Unterordnung. Dabei sind soziale Geflechte deutlich komplexer als das. Die Theorie geht von einer in der Biologie liegenden Struktur aus, die das soziale Leben bestimmt. Da ist reduktionisitisch, da das soziale Zusammenleben auf einen Antrieb reduziert wird und philosophisch idealistisch, da sie das soziale Bewusstsein als Ursache des sozialen Seins postuliert, anstatt umgekehrt (Turner & Reynolds, 2003). Die Ursachen des sozialen Lebens liegen in der Gesellschaft und den äußeren Umständen. Es gibt immer verschiedene Gegenpole wie Streit und Harmonie, Wettkampf und Kooperation, etc., basierend auf unterschiedlichen Faktoren. Denn “[d]ie Komplexität von […] Verbindungen ist ein Ausdruck einer dynamischen, transformativen, sozialen und psychologischen Natur” (übersetzt nach Turner & Reynolds, 2003).

Dominanz variiert mit der Gruppendynamik und dem Verhalten einzelner Individuen und spiegelt diese ggf. wider. Sie ist nicht der Mechanismus, der der Hierarchie zugrunde liegt. Das macht die soziale Dominanztheorie einseitig und fatalistisch. Wir haben keine Beweise dafür, dass Zwang, Macht und Gehorsam zu mehr Zufriedenheit und Erfolg führen als Akzeptanz, Einigkeit, gegenseitiger Respekt und Fürsorge (Turner & Reynolds, 2003).

Fazit

Hündische Beziehungen sind flexibel und fluid. Sie basieren auf unterschiedlichsten Faktoren, die alle berücksichtigt werden müssen, wenn eine Beziehung im Detail analysiert werden soll. Diese Faktoren umfassen menschlichen Einfluss, Umwelt, Ressourcen, Genetik und mehr. Simple Generalisierungen werden diesen Beziehungen nicht gerecht, und es ist wenig sinnvoll, über Dominanz zu diskutieren, da dieser Begriff keinen praktischen Wert für das reale Leben hat. Soziale Interaktionen sind niemals starr; sie sind situationsabhängig. Von einem dominanten Hund zu sprechen, ist im Grunde genommen eine leere Hülle und hat keinen tieferen Zweck, da Dominanz nicht als Charaktereigenschaft betrachtet werden sollte.

Menschliche Interpretationen geben Dominanz die größte Bedeutung. Wenn das Konzept der Dominanz, wie es im alltagssprachlichen Gebrauch existiert, herangezogen wird, um eine unfaire Behandlung von Hunden zu rechtfertigen, hat dies ernsthafte Konsequenzen für das Wohlbefinden dieser Hunde und sollte nicht einfach so hingenommen werden. Eine klare definitorische Trennung zwischen dem alltäglichen Gebrauch des Begriffs und dem ethologischen Konzept ist hochgradig relevant, wenn wir die gegenwärtige Rechtfertigung von Strafen im Hundetraining betrachten. Wenn unter einem dominanten Hund ein nach Macht und Status strebender Hund verstanden wird, leidet dieser letztendlich am meisten darunter.

In der Ethologie beschreibt der Ausdruck “dominantes Verhalten” das Charakteristikum einer Interaktion, insbesondere in Bezug auf den Zugang zu Ressourcen. Alle Individuen zeigen situationsbedingt dominantes Verhalten – das ist vollkommen neutral zu werten (Abrantes, 2011). Dominanz ist ein Produkt der Interaktionen zwischen Individuen und kein festgelegtes soziales System​​. Unterschiedliche Perspektiven führen zu unterschiedlichen Interpretationen der gleichen Verhaltensweisen, was zeigt, dass es keine einheitliche Wahrheit gibt​​ (Westgarth, 2014). Wenn es in der Diskussion wirklich um Macht gehen soll, ist doch eigentlich eindeutig, dass unsere Hunde hochgradig abhängig von uns sind, weil sie mindestens Nahrung, Schutz und Gesundheitsversorgung brauchen.

Abschließend die treffenden Worte von Ian Dunbar:

Ich „glaube […], dass wir den wichtigsten Punkt übersehen. So faszinierend es auch sein mag, die Entwicklung des Sozialverhaltens von Hunden zu beobachten und zu erörtern (ein Thema, das fast ein Jahrzehnt lang im Mittelpunkt meiner Forschung stand), so wenig, wenn überhaupt, haben die Sozialstruktur und das Verhalten mit dem Training von Hunden zu tun. Sozialverhalten und Hundetraining sind zwei völlig getrennte und unterschiedliche Disziplinen, und alle Vorstellungen von einer hierarchischen Sozialstruktur bei Wölfen oder Hunden, ob hypothetisch oder real, sind für das Training von Hunden einfach irrelevant“ (übersetzt nach Dunbar, 2010).

Quellen

Abrantes, R. (2011). Dominance – Making sense of the nonsense. https://rogerabrantes.wordpress.com/2011/12/11/dominance-making-sense-of-the-nonsense/ [Letzter Abruf am 19.05.2024].

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